Ethik als Problemlösung

Ethik als Problemlösung
Viele Streitfragen in Alltag, Beruf und Politik sind im Kern ethische Streitfragen. Für sie gibt es in den seltensten Fällen nur eine richtige Lösung. Doch lassen sich auch hier bessere und schlechtere Antworten unterscheiden. Die Angewandte Ethik will auf spezifische moralische Probleme überzeugende Antworten geben.
Was ist ein gerechter Lohn? Dürfen wir Tiere essen? Wie wollen wir mit der Knappheit von Organspenden umgehen? Welche Rechte haben Migranten? Viele Themen in der öffentlichen Diskussion entpuppen sich als ethische Streitfragen. Ethik hilft dabei, die dahinter stehenden Meinungen und Haltungen zu identifizieren und zu bewerten.
Was ist Ethik? Als philosophische Wissenschaft geht es ihr zuerst um eine kritische Prüfung unserer Moral: Dass wir einander nicht belügen, bestehlen oder töten dürfen, scheint zunächst eine ausgemachte Sache zu sein. Aber was heisst es eigentlich zu lügen: Ist jede wahrheitswidrige Aussage, die wir jemandem gegenüber im Wissen treffen, dass sie falsch ist, bereits eine Lüge? Das machen Schauspieler auf der Bühne doch laufend! Und ist Lügen wirklich immer verboten? Was wäre etwa, wenn ich einen unschuldig Verurteilten bei mir verstecke und die ihn verfolgenden Häscher des Unrechtsstaates klopfen an meine Tür? Das kann doch nicht falsch sein!
Angesichts solcher Überlegungen mag man versucht sein, die vormals für plausibel gehaltenen Normen, die uns die Moral in Alltag und Beruf entgegenhält, nachgerade über Bord zu werfen. Besteht Moral nicht vielleicht letztlich nur aus wilden Meinungen, die bestenfalls einfach unaufgeklärt und schlimmstenfalls die Interessen derjenigen verbergen, die gerade an den gesellschaftlichen Schalthebeln der Macht sitzen?
Philosophische Ethik gibt sich mit derlei Pessimismus nicht zufrieden. Sie fragt weiter: Gibt es nicht treffendere, wirklichkeitsnähere Bestimmungen für Lügen? Lassen sich nicht vielversprechende Gründe auffinden, warum Lügen in vielen Situationen verwerflich und in einigen Ausnahmefällen doch gestattet ist oder wie in unserem Beispiel sogar geboten?
Wie diese Gründe ausschauen, unterscheidet sich je nach ethischer Theorie. Vier grundlegende Alternativen stehen zur Wahl: Lügen und Diebstähle könnten erstens falsch sein, weil sie gewöhnlich Schaden anrichten und das Glück der Betroffenen mindern – man soll daher letztlich so handeln, dass man möglichst wenig Schaden anrichtet. Oder solche Taten sind zweitens deshalb moralisch fehlgeleitet, weil ihre Opfer ihnen kaum je zustimmen werden – wer lässt sich schon freiwillig beklauen –, so dass wir grundsätzlich dem Gebot folgen sollten, andere als Wesen mit eigenen Zielen zu respektieren. Oder derlei Handlungen haben drittens keine Chance, akzeptiert zu werden, wenn wir alle zusammen darüber nachgrübelten, nach welchen Regeln wir leben wollten, ohne zu wissen, welche Ziele wir anschliessend verfolgen. Die sich dabei ergebenden Normen wären dann diejenigen, auf die wir uns vernünftigerweise einigen sollten. Oder wir denken viertens, dass Lügen und Stehlen einfach nicht die Art von Tun ist, dem sich ein Mensch von gutem Charakter hingeben würde. Um herauszufinden, was zu tun und was zu unterlassen ist, sollten wir daher den moralisch relevanten Bestandteilen eines solchen Charakters auf den Grund gehen: Tugenden und Lastern.
Wie wir im Fall von Lügen gesehen haben, kann die Spezifizierung moralischer Gründe nicht bei allgemeinen Handlungsarten wie Lügen, Stehlen oder Töten stehen bleiben. Die moralische Problematik einer Tötung etwa kann je nach Situation ganz unterschiedliche ethische Fragen aufwerfen: Darf etwa man beispielsweise einen Menschen, der aufgrund einer tödlichen Krankheit grosse Schmerzen leidet, auf sein Bitten hin ein tödliches Medikament aushändigen – ja oder nein? Dürfen wir Tiere töten, einfach weil sie uns so gut schmecken – ja oder nein? Darf ein Staat militärisch in einem Nachbarland intervenieren, um gravierende Menschenrechtsverletzungen dort zu unterbinden und dabei den Tod von Menschenleben in Kauf nehmen – ja oder nein?
Mit diesen Fragen betritt man die verschiedenen Gebiete der Angewandten Ethik. Deren Aufgabe besteht in der Anwendung der gerade genannten Begründungsweisen der Ethik auf verschiedene Problemkontexte, um so ihre Plausibilität zu beleuchten. In der ersten der gerade beschriebenen Fragestellungen kam etwa die Medizinethik zur Sprache: Sie stellt u.a. Fragen nach dem medizinischen Umgang mit Leben und Tod. In der zweiten wurde eine zentrale Problemstellung der Umweltethik verhandelt, die sich bemüht, Art und Umfang unserer Pflichten gegenüber der Natur und ihren Bewohnern zu schärfen. Die dritte berührte den Bereich der politischen Ethik: Unter welchen Umständen darf in die Geschicke souveräner Staaten eingegriffen werden, gar noch mit Gewalt? Indem die grossen Theorien der Ethik mit Hilfe der Angewandten Ethik auf diese und weitere Fragen heruntergebrochen werden können, wird Ethik im besten Sinne praktisch: Theoretische Reflexion stellt sich in den Dienst der Prüfung und Lösung drängender Fragen unserer Zeit.
Die verschiedenen Theorien der allgemeinen Ethik und ihre Spezifizierung in den Bereichen der Angewandten Ethik stehen im Mittelpunkt der Weiterbildungsangebote der Advanced Studies in Applied Ethics (ASAE) der Universität Zürich. Nach einem Grundlagensemester, in der die Theorien, Prinzipien, Argumentationsformen und Methoden der Angewandten Ethik vermittelt werden, stehen in den Aufbausemester je nach gewähltem Studiengang die Vertiefung in einem oder mehreren Bereichen der Angewandten Ethik auf dem Programm. Zusätzlich werden in Lektürekursen und Summerschools ethische Lese- und Problemlösungskompetenzen geschult. Nähere Infos zum Angebot der ASAE finden Sie hier.